Vor ein paar Tagen war ich in Cannes beim Friseur. Ich stürzte einfach in einen x-beliebigen Salon in der Nähe der Strandpromenade Croisette und bat um einen Haarschnitt. Ich konnte keinen Tag, ja keine Stunde länger warten.
Am Abend zuvor war ich in Nizza am Flughafen gelandet. Schon in der Gepäckabfertigungshalle, wo alles nicht mehr wie in München nach Leberkässemmeln, sondern nach Meerluft und dezent nach Parfum duftet, war mir mein Ebenbild in den verspiegelten Scheiben des Zolls neben der Champagner-Werbung aufgefallen. Wie zerzaust ich aussah. Warum hatte ich das nicht schon in München bemerkt? In Deutschland war mir dieses konfuse Etwas auf meinem Kopf, das ein bisschen so wirkte, als hätte ich ein Problem mit Beruhigungsmitteln, noch als völlig normal erschienen. Kann man machen, hatte ich gedacht.
Dass dem nicht so war, wurde mir spätestens klar, als ich in Cannes meine Freunde Eric und Fabio traf. Die beiden verkaufen Vintage-Mode. Darunter viel Haute Couture mit einem besonderen Augenmerk auf Yves Saint Laurent, der Guru der beiden. Fabio schaute mich mitleidig an. Auch Eric war besorgt: Hattest du viel Stress in letzter Zeit?
Ähnlich wie mein Französisch braucht auch mein französisches Stilempfinden immer eine Weile, um in die Gänge zu kommen. Jetzt war es wieder erwacht. Was auch immer sich da auf meinem Kopf abspielte, es musste sofort ein Ende haben.
So kam es zu meiner Flucht in den nächstbesten Friseursalon. Ich hatte Glück, ein sehr netter junger Mann erbarmte sich mit verständnisvollem Blick sofort und weitgehend stillschweigend meiner Haare.
Als ich wenig später den Friseur verließ, sah ich vielleicht ein bisschen aus wie Christine Lagarde, die Chefin der Europäischen Zentralbank, aber ich war trotzdem zutiefst erleichtert. Ich hatte jetzt einen klassischen Haarschnitt, den ich unterschiedlich tragen konnte. Diese seltsame Kruste aus Nachlässigkeit und teutonisch-schroffer Praktikabilität, die sich immer in mir aufbaut, wenn ich mal länger nicht in Frankreich war, war wegpoliert. Jetzt noch eine Maniküre, etwas Parfum, und ich konnte mich wieder in das Lebensgefühl fallen lassen, das so schwer fassbar und doch so unwiderstehlich französisch ist: die Eleganz.
Wenn wir über nationale Phänomene wie die französische Eleganz nachdenken, schwingt immer auch eine ordentliche Portion Klischee oder Vorurteil mit. Ohne Zweifel gibt es auch in Frankreich zahlreiche höchst unelegante Menschen. Aber Tatsache ist nun mal, dass ich mich in Deutschland nie getraut hätte, in irgendeinen Friseurladen zu gehen und mich einer fremden Schere auszuliefern. Das Verunstaltungsrisiko ist da einfach zu groß.
Das mag daran liegen, dass in Frankreich eher als in Deutschland ein Konsens herrscht, dass Schönheit und überhaupt das Äußere nichts Oberflächliches ist, sondern ein zentraler Bestandteil dessen, was es bedeutet, eine Person zu sein. Dass der Körper, den wir mit Kleidung, Frisur, Make-up, Schmuck gestalten, um uns darin wohlzufühlen, nicht so sehr ein Bewegungsapparat für den Geist, sondern eine Quelle des Glücks darstellt.
Mit einer ähnlichen Ernsthaftigkeit und Hingabe, mit der in Deutschland dem Ingenieurwesen nachgegangen wird, wird in Frankreich die Gestaltung des Selbst als Kunst betrieben. Einer Kunst, die nicht einer kleinen privilegierten Gruppe vorbehalten ist. Ein Bekannter von mir ist Handwerker für Pools und Klimaanlagen. Er fährt einen weißen Lieferwagen. Und doch steht es für ihn außer Frage, dass er viel Geld für feine Hermès-Parfums ausgibt. Weil das für ihn ein essenzieller Bestandteil seines Gefühls von Lebensqualität ist. Das ist keine Frage von Mode – obwohl die auch eine Rolle spielt –, denn die unterliegt schnelllebigen Trends, die eine riesige Industrie befeuern. Vielmehr geht es hier um ein Schönheitsempfinden, das jenseits der Zeit existiert. Um die Eleganz eben.
Dabei ist Eleganz nicht so sehr eine Frage des Aussehens, sondern des Gefühls. Eleganz bedeutet, dass man sich wohl im eigenen Körper fühlt. Ein Körper, der sich nicht wohlfühlt, kann auch nicht elegant sein. Weswegen französische Eleganz schon beziehungsweise vor allem bei dem, was man nicht sieht, also der Unterwäsche, beginnt.
Eine Freundin von mir wohnt in einem Bergdorf hinter der Cote d’Azur. Dort gibt es einen kleinen Wäscheladen. Nach außen hin nichts Besonderes, ein winziges, auf den ersten Blick eher bieder wirkendes Geschäft. Im deutschen Äquivalent gäbe es dort wahrscheinlich quadratisch-praktisch-gute Baumwollware, die die Nieren warm hält.
Der kleine Wäscheladen im Bergdorf dagegen verkauft delikate Seiden- und Spitzenunterwäsche. In der Auslage liegt ein Body aus roter Spitze, den man wahrscheinlich als Reizwäsche bezeichnen würde. Meine Freundin versichert, dass man hier immer sehr schnell sein muss. Sobald eine neue Lieferung kommt, ruft die Besitzerin des Ladens sie an, weil die beliebten Größen sofort ausverkauft sind. Was hier verkauft wird, ist das Zelebrieren von Sinnlichkeit. Und zwar nicht nur zur Verführung des Partners, sondern vor allem auch zur Verführung des Selbst durch das Ich.
Wie bei der vorrangigen französischen Religion, dem guten Essen, steht der Genuss im Vordergrund. Seinen Körper zu genießen, indem man ihn pflegt und seine Erscheinung gestaltet, ihn in Szene setzt, ist demnach keine Zeitverschwendung. Das hat nichts Frivoles, wie oft in Deutschland geglaubt.
Gern verwendet die Eleganz der Französinnen auch androgyne oder stereotypisch männliche Elemente. Gerade der Pariser Chic, nachhaltig geprägt von Coco Chanel, Jane Birkin und Inès de la Fressange, hat immer auch etwas Natürlich-Jungenhaftes. Wenn wir Männlichkeit und Weiblichkeit als gleitende Pole auf einer Skala betrachten, so befindet sich die elegante Französin nie ganz im rein weiblichen Spektrum. Denn die Ballung von Gender-Extremen – sagen wir Atombusen in Verbindung mit rosa Rüschen und Stöckelschuhen – ist nicht elegant, sondern monströs.
Während Französinnen so gar kein Problem mit ihrer androgynen Seite zu haben scheinen, hinkt der französische Mann seinen italienischen oder englischen Gendergenossen hinterher. Weil ein Dandy, um gut angezogen zu sein, eben auch zu seiner Weiblichkeit stehen muss. Das jedenfalls ist meine Theorie, warum französische Männer in Sachen Eleganz oft so gar nicht mit den Französinnen mithalten können und zumindest ästhetisch irgendwelchen veralteten Macho-Fantasien nachzutrauern scheinen. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen – allen voran die Ikonen Yves Saint Laurent und Serge Gainsbourg.
Die Kultivierung von Eleganz beginnt in Frankreich schon im Kindesalter – wie gesagt, wir bewegen uns hier im Bereich der Annäherungen – was sich im internationalen Erfolg von französischen Kindermarken wie Petit Bateau oder Tartine et Chocolat niederschlägt. Wobei es nicht so sehr um die anti-autoritäre Romantisierung des Kindes als von der bösen Erwachsenenwelt noch unbeflecktes Individuum geht, das frei seiner Kreativität nachgehen soll – was in hiesigen Kindergärten oft zu ästhetisch dubiosen Einhorn-Mützen und anderen clownesquen Outfits führt. Vielmehr werden französische Kinder oft wie kleine Erwachsene angezogen, mit Anzügen und Kleidchen in gedeckten Farbe. Nicht das Kind gibt den Ton an, sondern die Eltern. Eleganz, das ist auch eine Art ästhetisches Grundgerüst, das sich früh entwickelt.
Um elegant zu sein, benötigen Französinnen keine Designermarken. Schließlich schreit so ein demonstratives Logo ja nach Aufmerksamkeit, was per se unelegant ist. Dennoch ist die Luxusindustrie mit ihren großen Modehäusern wie Chanel, Dior und Louis Vuitton nicht nur das weltweite Aushängeschild, sondern auch ein wirtschaftlicher Grundpfeiler Frankreichs. Mehr als eine Million Franzosen sollen derzeit in der Branche beschäftigt sein. Ob in Dubai, Düsseldorf oder im Flughafen von Singapur, überall strahlen einem auf Leuchttafeln überlebensgroß ihre Produkte entgegen.
Was für Deutschland die Wertarbeit der Autos und Waschmaschinen ist, ist für Frankreich das Versprechen der Eleganz. Ein Exportschlager. Das Designerlogo soll schützen vor dem alltäglichen Minenfeld der Identitäten, wird als Monstranz vor sich hergetragen im Kampf gegen die Bedeutungslosigkeit. Eine globale Ersatzreligion, die Transzendenz der Eitelkeitsverletzungen des Lebens verspricht. Denn im Logo liegt die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Wir danken Ihnen für Ihren Einkauf.
Veröffentlicht in Die Zeit, 11. Juli 2024