Menu

Blaues Wunder

“Stille erfüllte das Haus, doch irgendwo im Garten gab es einen Swimming Pool, in dem sich das Wasser unruhig kräuselte.”

So beginnt J.G. Ballards dystopischer Roman “Super Cannes” und beschreibt damit perfekt den ewigen Widerspruch und damit auch die ewige Verlockung der Cote d’Azur. Seit fast zwanzig Jahren komme ich nun schon hierher. Und kann so mit einiger Sicherheit behaupten: Nichts ist an der Cote d’Azur so, wie es scheint. Alles hat einen doppelten Boden. Nur auf das alles überstrahlende Blau des Horizonts ist Verlass.

Das Blau der Cote d’Azur. Sicherlich gibt es wissenschaftliche Erklärungen, warum Himmel und Meer innerhalb dieses kurzen Küstenstreifens, der von Monaco bis zu Theoule-sur-Mere, so intensiv leuchten. Doch angesichts der hypnotisierenden Unendlichkeit, die einen umhüllt, wenn man in Cannes auf den Meereshorizont hinausschaut, ist alle Wissenschaft überflüssig. Der 18-jährige Yves Klein, der 1928 in Nizza geboren wurde, erklärte seinen heimatlichen Himmel als sein erstes, unendliches Gemälde. Es war eine symbolische Geste, auf die später seine berühmten Monochrome folgen sollten. Das Yves Klein Blau, es ist das Blau der Cote d’Azur. Dabei handelt es sich nicht um eine Farbe, sondern eine physische, wenn nicht sogar spirituelle Erfahrung. Für mich ist es das real gewordene Nirvana. Etwas, das größer ist als Himmel und Erde zusammen.

Nizza selbst vermeidet man abgesehen vom Flughafen am besten weiträumig, außer man will unbedingt im Stau stehen, um dann zu einer eher traurigen Fußgängerzone zu gelangen. Fährt man aber die Küstenstraße vom Golf von Juan-les-Pin entlang, vorbei am Fischrestaurant Tetou, wo es angeblich die beste (und teuerste!) Bouillabaisse der Welt gibt, hinauf zum legendären Hotel-du-Cap und dann wieder hinunter nach Antibes, so raubt einem die Schönheit des Cote d’Azur Blaus immer wieder den Atem. Über die allgegenwärtigen Palmen hinweg strahlt das Blau, und es ist, als würde einen die Natur anlächeln. Und doch muss ich bei seinem Anblick auch immer an Derek Jarmans letzten Film „Blue“ denken, in dem er zwei Stunden lang nur eine Kobalt-blauen Leinwand zeigte und dazu im Off die Stimmen von Jarman selbst und u.a. auch Tilda Swinton über Jarman Arbeit, seinen Visionen und auch seine AIDS Erkrankung reflektieren. Genauso ist das Blau der Cote d’Azur. Tief berührend. Existentiell.

Nicht nur Yves Klein, sondern auch andere Gründerväter der Moderne ließen sich von der Cote d’Azur inspirieren: Picasso, Chagall, Miro, Calder, Man Ray, Max Ernst – sie alle kamen zum großen Blau. Ihren Spuren zu folgen - jenseits der hier allgegenwärtigen Chagall-Geschirrhandtücher und Picasso-Sofakissen der Souvenirläden - eröffnet einem eine völlig neue Dimension von Schönheit und Lebensgenuss.

Am Cap Ferrat, beispielsweise, lohnt es sich einen Besichtigungstermin für die immer noch in Privatbesitz befindliche Villa Santo Sospir zu buchen. Dieser magische Ort wird auch als das „tätowierte Haus“ bezeichnet. Jean Cocteau, der hier 13 Jahre lang wohnte und wilde Parties feierte, übersähte es mit Wandzeichnungen. Andenken und Fotos erinnern an illustre Gäste wie Greta Garbo, Marlene Dietrich und Pablo Picasso. So will man leben.

In Vence gibt es eine wunderschön klare, von Matisse dekorierte Kirche, die Chapelle de Rosaire. Ein paar Kilometer weiter, vor den Toren von St. Paul de Vence, einem von Touristen überlaufenen Bergstädtchen, das man eigentlich allein schon wegen der grauenhaften Kunst in den kommerziellen Galerien der Altstadt meiden sollte, liegt die Fondation Maeght. Es ist eins der schönsten Museen, das ich kenne. Ein Tempel der Moderne mit Skulpturen und Bildern von Künstlern wie Chagall, Giacometti, Calder, Braque und Miro. Etwas näher am Stadtkern liegt ein fast ebenso magischer Ort, das Restaurant und Hotel Colomb d’Or, wo viele dieser Künstler verkehrten und Gastgeschenke hinterließen. So hängen denn an den Wänden Bilder u.a. von Picasso, Braque und Leger und am Pool, umgeben von Zypressen steht ein Calder Mobile.

Es ist hier im Colomb D’Or, wo während der Filmfestspiele von Cannes, Filmstars unter Zitronenbäumen sitzen und sich freuen, dass ihr Film im Festival spielt. In Cannes selbst ist für solche Entspannungsmomente keine Gelegenheit. Das Filmfestival wurde 1946 gegründet, um den Tourismus anzukurbeln und Glamour nach Cannes zu bringen. Die Rechnung ist aufgegangen. Während des Festivals schieben sich hier die Massen die Croisette Uferpromenade entlang. Alle versuchen, einen Blick auf die Stars zu erhaschen, die in schwarzen Limousinen durch die Menge zum roten Teppich gelotst werden.

Der rote Teppich, der die ebenso berühmten wie hässlichen Stufen des Palais du Festival hinaufführt, wirkt auf mich immer wie eine Gladiatoren Arena. Wenn man ihn betritt ist man auf allen drei Seiten von völlig entfesselt schreienden Fotografen umgeben. Jedes Mal, wenn eine einigermaßen bekannte Person den Teppich betritt, prasselt ein Blitzlichtgewitter los. Abendgarderobe ist Vorschrift, alle Männer – auch die Fotografen – müssen Fliege tragen. Bei allen pumpt das Adrenalin, die Industrie des Begehrens läuft auf Hochtouren.

Der Berühmtheitsgerad ist während der Festspiele das ordnende System. Dies kann magische Momente entfachen, wie z.B. bei der Premiere von Terrence Malicks „Tree of Life.“ Ich saß schon mit dem Rest des Publikums im Kino des Palais du Festival, als auf der Leinwand live die Ankunft von Angelina Jolie und Brad Pitt auf dem roten Teppich übertragen wurde. Die beiden größten Stars des Abends hatten den Teppich für sich und bewegten sich darauf - Jolie in einer schokoladenfarbenen Seidenrobe - wie zwei Balletttänzer beim Pas de Deux. Es war, als würde ihnen in diesem Moment die Welt gehören. Nie war mir die Definition von „Star Power“ deutlicher.

Star Power führt in Cannes auch zu absurd-komischen Situationen. Z.B. saß ich einmal beim Mittagessen auf der Terrasse des Eden Rock, dem Restaurant des Hotel du Caps. Während das Restaurant außerhalb der Filmfestpiele von reichen Russen belagert wird, saßen nun an fast allen Tischen Filmproduzenten, Agenten und die wenigen, glücklichen Hollywood Angestellten, denen ein US Filmstudio eine Dienstreise nach Cannes bezahlte. Plötzlich drehten sich alle Köpfe. Von einer der großen Jachten, die um das Cap geankert hatten, schipperte ein Motorboot zum Hotel Kai und legte an. Aus stieg Johnny Depp und erklomm leicht wankend á la Jack Sparrow die Steintreppe hinauf zum Restaurant. Als er die Terrasse betrat, klatschten alle laut. Nicht weil er etwas Besonderes getan hätte oder man in Cannes nicht an Filmstars gewöhnt wäre. Sondern einfach nur weil man gerade im schönsten Restaurant der Welt Rosé Wein trank und als Krönung auch noch Johnny Depp einen Piraten-Auftritt geliefert hatte. Vor lauter Begeisterung für die Situation durfte man ruhig mal applaudieren.

Im Hotel du Cap war es, wo der junge John F. Kennedy Marlene Dietrich kennenlernte, wo neben zahlreichen Hollywood Stars Scott Fitzgerald und Hemingway ebenso wie Churchill, Charles de Gaulles und der Herzog und Herzogin von Windsor verkehrten. Das Hotel, das der Oetker Familie gehört und in dem man bis 2006 nur mit Cash bezahlen konnte, hat nichts von seinem Charme eingebüßt. Man fühlt sich hier immer noch wie am Set von „The Great Gatsby.“ Doch wo Schönheit, Begehrlichkeit und Geld aufeinandertreffen, ist die dunkle Seite nie weit.

Kurz bevor die Filmfestspiele beginnen und die Filmverkäufer mit ihren hungrigen Augen eintreffen und jeder Unterhaltung aus dem Weg gehen, in der sie kein Geld verdienen können, drängt sich in den Flügen nach Nizza eine Armee aus Prostituierten. Tausende sollen es sein, die im Mai in Cannes aufschlagen und ihr Geld auf den zahlreichen Luxusyachten und Hotels an der Croisette verdienen. Auch im Hotel du Cap gibt es davon zwei oder drei davon in der Hotel Bar. Hauptsächlich aber sieht man sie nachts in den Bushaltestellen stehen oder auf die weißen Boote verschwinden, die im Hafen von Cannes vor Anker liegen.   Im Cannes sind zeitweise Millionen, wenn nicht Milliarden von Euro vertäut. Wie weiße Leviathane liegen die Schiffe im Wasser, immer mit dem Versprechen, dass was auf dem Boot geschieht auch auf dem Boot bleibt.

Das Filmfestival bietet einen hochprozentigen Cocktail aus Glamour und Exzess. Viele, die sich daran berauschen wollen, haben nur scheinbar etwas mit Film zu tun. Da sind die halbseidenen Geschäftsleute, die gerne mal Filmproduzent spielen wollen und die Möchtegern Schauspielerinnen, die darauf reinfallen. Oder die reichen Erben, die sich Papis Yacht ausgeliehen haben und so tun, als hätten sie auch die Erlaubnis, Papis Geld in Filme zu investieren. Als ich noch Filmjournalistin für das Branchenblatt „Variety“ war, landete einmal auf einer Party in einer Villa direkt neben dem Hotel Du Cap. Ein riesiges Anwesen mit Meerblick und Zypressen-Park. Eine Gruppe an jungen Engländern mit Internats-Akzenten hatte es sich gemietet und behaupteten irgendetwas mit Filmfinanzierung zu tun zu haben. Der eine hatte angeblich schon mal bei der Finanzierung eines Films mit Colin Firth gearbeitet. Ich wunderte mich, dass alle so überaus freundlich und gesprächig waren. Bis ich dann sah, wie der Gastgeber alleine vor sich hin tanzte und dabei Sex mit einem Lautsprecher hatte. Ganz offensichtlich war ich auf einer Ecstasy Party gelandet und es war nur eine Frage von Minuten, bis die Pillen bei den Villa Bewohnern ihre volle Wirkung erzielen würden. Mit Filmfinanzierung hatte das alles wenig zu tun, aber es war eine typische Nacht in Cannes.

Dekadenz und dunkle Begierde im hellen Sonnenlicht ist ein Thema, das immer wieder auftaucht, wenn in der Literatur über die Cote d’Azur geschrieben wird. Sumerset Maugham, der in einer Villa am Cap Ferrat wohnte, nannte die Cote d’Azur einen „sonnigen Ort für zwielichtige Menschen.“ Vladimir Nabukov recherchierte hier für seinen Roman „Lolita.“ Es war an der Cote d’Azur wo Nabukovs Protagonist Humbert Humbert aufwächst und auf Grund einer unglücklichen Pubertätsliebe auch als Erwachsener immer wieder „Nymphetten“ begehren sollte. In Grasse, also nur wenige Kilometer landeinwärts von Cannes, ermordet das olfaktorische Genie Grenouille in Patrick Süskinds Weltbestseller „Das Parfum“ Jungfrauen, um das ultimative Parfum zu schaffen und sich so die Liebe der Menschen zu sichern.

Der alte Stadtkern von Grasse besitzt zwar etwas Düsteres, aber ich fahre immer wieder dorthin. Ich kann einer Stadt, die dem Duft geweiht ist, genauso wenig widerstehen wie ich Cannes widerstehen kann. Es macht Sinn, dass diese Orte so nahe beieinander liegen. Wird doch im Mekka des Kinos das verführerische Aroma der Prominenz gefeiert und eine Kinoleinwand ist beides: Projektionsfläche und Generator unserer Begierden. Derweil ist ein Duft immer der Versuch, ein Verlangen zu destillieren.

Die Beschäftigung mit der eigenen Begehrlichkeit ist vor allen für die Damen der Cote d’Azur ein großes Thema. In der Nebensaison, wenn weniger Ferraris und Lamborghinis durch die Straßen heulen und die Kellner in den Lokalen gute Laune haben, sieht man immer wieder Frauen unbestimmten Alters durch die Designerläden der Croisette streifen. Meist in Nerz gekleidet, nicht selten in schwarzen Leder-Leggins und hohen Stiefeln, die Gesichter mit Laser und Skalpell modifiziert, wirken sie wie eine völlig eigene Spezies. Ich mag sie, weil sie sich ganz offensichtlich um nichts scheren und sich wenn schon nicht die Welt, dann wenigstens sich selbst so gemacht haben, wie es ihnen gefällt. Über allem liegt jedoch die verzweifelte Frage: Was tut man nur mit all dem vielen Geld, wenn doch nichts wirklich hilft? Auch Hermes kann einen nicht vor dem Tod retten.

Der Kampf gegen die Natur, man sieht ihn überall an der Cote d’Azur, besonders in der Architektur. Allen voraus das Palais du Festival in Cannes, das wie eine Mischung aus Raumschiff, Atomschutzbunker und Flughafenterminal am Ende der Croisette steht. Bei diesem Ungetüm kommt es mir immer vor, als hätte der Architekt es sich zum Ziel gesetzt, mit all seiner Macht die Schönheit des Horizonts zu zerstören. Die Schönheit der Natur sollte unterworfen werden. Das Großartige daran ist, dass es ihm nicht gelungen ist. Das Blau siegt immer.

Immer wieder sieht man an der Cote d’Azur Manifestationen des französischen Vernunftglaubens. Allen Gebäuden voran ist die Marina Baie des Anges, einem riesigen futuristischen Apartment Komplex am Rande von Nizza. Wie Tsunamiwellen winden sich die Apartment Türme um einen eigenen Yacht Hafen mit Restaurants und Supermarkt. Jedes Eckapartment besitzt einen Dachgarten, alle haben den gleichen, perfekten Meerblick. Theoretisch muss niemand die Marina jemals verlassen und kann hier für immer glücklich sein. Es ist die steingewordene Utopie von der bürgerlichen Freizeitgesellschaft. Kleinere Versionen davon finden sich am gesamten Küstenstreifen der Cote d’Azur.

Als bürgerlicher Luxus Resort konzipiert, ist die Marina Baie des Anges heute etwas herunter gekommen. Die Theorie hat versagt. Zu gewaltig ist die Architektur als dass hier Menschen wirklich leben möchten. J.G. Ballard beschreibt in „Super Cannes,“ wie die an der Cote d’Azur die Utopie zur Dystopie umschlägt und die Träume der Aufklärung zu Ruinen zerfallen. Denn – so Ballard – die Utopie kann das Dunkle im Menschen nicht akzeptieren. Sie zwingt uns zum ewigen Mittelmaß, zur Vermeidung von allem Extremen. Die Seele muss ständig wie eine Vorstadthecke gestutzt werden. Das hält auf Dauer niemand aus.

Das Schöne an der Cote d’Azur und der Grund, warum ich diesen Ort so liebe, ist dass die Seele hier groß sein darf. Der Glaube an die Moderne und die Aufklärung ist hier durch die Kunst des 20. Jahrhunderts ebenso gegenwärtig wie unsere Enttäuschung mit den unerreichten Träumen des Abendlands. Der Duft der Mimosenbäume, die hier im Frühjahr blühen, die sanften Windungen der Wanderwege, die die Küste entlangführen und die atemberaubenden Vistas, die an jeder Ecke warten, sind nur die eine Seite der Cote d’Azur. Das Dunkle und Gescheiterte die andere.

Alles, was das Leben schön und lebenswert macht, gibt es hier in höchster Konzentration, ebenso wie alles, was einen an der Menschheit verzweifeln lässt – Eitelkeit, Gier, Völlerei. Das Parfum der Cote d’Azur, die Blumen, die Bäume und das Meer, es erhält seine dunkle Note vom fauligen Bukett des Geldes. Es ist wie bei Grenouilles Parfum in Patrick Süskinds Roman. Der Duft der Jungfrauen wird erst durch das Aroma der Hure wahrhaft unwiderstehlich.

Published as text & photo story in VOGUE Germany, May 2016

Click here for photos